2016-03-23

Fehler und Edieren 0251

Über Fehler und Editionen

Was ist ein Fehler?

Vorausgeschickt sei: Nein, ich habe nicht vor einen eigenen neuen Text der Historia animalium zu konstituieren. Und ich bin auch nicht wirklich unglücklich mit den Textständen die wir haben. Denn mich interessiert der "ursprüngliche" Textstand (selbst wenn es einen solchen gegeben haben sollte) nur recht begrenzt: für dieses Projekt hier sind die Textstände die im 16. Jahrhundert zur Verfügung standen mehr als hinreichend (also Gaza, Aldus, auch Guillelmus de Moerbeke, und via Albert auch Michael Scotus). Und in den meisten Fällen blicke ich auch da aus ziemlichem Abstand.

Vorausgeschickt sei ebenfalls, dass ich hier nicht auf die Frage eingehe, ob es jemals einen "Archetypus" des Corpus aristotelicum, bzw. eines oder mehrerer Texte des Corpus aristotelicum gegeben habe, und falls ja: ab wann. Falls ich das auch weiterhin vermeidenb kann: soll's mir mehr als recht sein.

Vorausgeschickt sei auch: ich habe nichts gegen altphilologische Editionen. Aber ich wundere mich.

Was ist ein Fehler?

Friederike Berger schreibt in ihrem (m.E. sehr lesenswerten) Buch zur Textgeschichte der HA p.1s: 
"
Die Untersuchung der erhaltenen Textzeugen basiert auf der Methode, die Paul
Maas entwickelt hat. Die Verwandt-||schaft zweier Handschriften wird durch signifikante gemeinsame Fehler bewiesen, gemeinsame richtige Lesarten dagegen haben wenig Aussagekraft, die Statistik kann nur in Ausnahmefällen sinnvoll sein.
"
 (Fettung durch mich.)

Was aber sind "Fehler", bzw. was sind "signifikante Fehler"? Das Buch von Maas liegt mir derzeit nicht in der von Berger zitierten 4. Auflage von 1960 vor, sondern nur in der 1. von 1927. Maas schränkt p. 2 ein, dass (manches von dem?) was er sage nur von nicht "kontaminierten" Handschriften gelte, definiert aber soweit ich sehe "Fehler" nicht, erwähnt p. 3 "Sonderfehler" von Abschriften die sich durch "mechanische Beschädigung des Textes" u.dgl. in einer erhaltenen Vorlage erklären lassen, und hat auch sonst vieles zu Fehlern, aber soweit ich sehe nichts was einer Definition nahekäme. Und bei Berger habe ich auch keine solche Definition gefunden.

Was aber sind bei ("unkontaminierter") handschriftlicher Überlieferung Fehler? 

Im Falle von Fehlern durch fehlgeleitete Augen bei der Abschrift ausgefallenen Zeilen ist der Fall klar:  
Handschrift A habe:
Sed vel mattis 890  non 
123 wert 567 zuiopü 890
123 asdf 098 ghjklö 890
adipiscing 567 elit 678
Handschrift B habe:
Sed vel mattis 890  non 
123 wert 567 zuiopü 890
adipiscing 567 elit 678
Hier ist es klar, dass der Ausfall/das Fehlen von  von "123 asdf 098 ghjklö 890" in Handschrift B ein Fehler ist. (Ein durchaus "schöner", guter, nützlicher Fehler. Ich selber habe mit Handschriften späterer Zeiten zu tun. Da sind nach meiner Beobachtung derlei Fehler selten.)

Wie sieht es aber mit diesem Fall aus:
 Handschrift A habe:
Der Dxwnt ist mutig.  
Handschrift B habe:
Der Jagdhund ist mutig.
Man wird geneigt sein, in einem solchen Fall den Textstand von B für fehlerärmer bis fehlerfrei zu halten.
 Aber vermutlich nur bis man auf eine Handschrift C stößt, die an dieser Stelle hat:
Der Dachshund ist mutig.  
Was ist jetzt der "Fehler"? Welche Handschrift(en) hat oder haben jetzt den (welchen? einen?) Fehler?

Hinzu kommt im Falle von Sachtexten wie den HA des Aristoteles, dass sie ein "sachliches richtig und falsch" scheinen haben zu können: Handschrift A schreibt Tierart X die Eigenschaft Y zu. Handschrift B schreibt Tierart X hingegen nicht die Eigenschaft Y, sondern die davon abweichende Eigenschaft Z zu. Und die Empirie (oder das was Herausgeber C zum Zeitpunkt Tcx dafür hällt) sagt: Tierart X hat Eigenschaft Z, aber nicht Eigenschaft Y. Haben wir dann einen Fehler von Handschrift A vor uns? Können wir ausschließen, dass Schreiber/in S, der/die Handschrift B erstellt hat, eine Vorlage hatte, in der ebenfalls stand, Tierart X habe Eigenschaft Y, aber der Ansicht war, die Empirie (oder das was Schreiber/in S zum Zeitpunkt Tsy dafür hielt) sage Tierart X hat Eigenschaft Z, aber nicht Eigenschaft Y, und entsprechend "korrigiert" hat (Maas, op. cit., p. 5 spricht in solchem Fall von "divinatio")?

Was ist ein Fehler?

Warum sich primär auf Fehler stützen, statt so ziemlich alle Varianten (inkl. "richtige Lesarten" [v.s.]) einzubeziehen, so wie es Inglese für seine Edition von Machiavelli's De principatibus (pp. 57-149) getan hat? 

Oder warum nicht sich bei der Untersuchung der Abhängigkeiten/Verhältnisse der Überlieferungsträger primär auf Interpunktion (u.dgl.) stützen, wie es Nadia Gontarbert in ihrer (m.E. genialen!) Edition von La Boétie's De la servitude volontaire getan hat (ed. all. pp. 48-74)?

Was ist ein Fehler?

Was ist ein Fehler für Leute die primär "Fehler" für ihre Analysen der Abhängigkeiten/Verhältnisse der Überlieferungsträger und z.T. auch ihre   editorischen Entscheidungen zugrundelegen?

(Am Rande [wenn's im späteren "Produkt" wirklich in margine landen würde: würde's mich freuen] : Dass mir mal jemand nahegelegt hat, eine Edition  die ich gemacht habe wäre besser ausgefallen, wenn ich 'Grammatikfehler' meiner Vorlagen nicht in meinen Haupttext übernommen hätte: sei nur als Kuriosum vermerkt. M.E. dient eine Edition nicht dazu einen einer gebildeten Person möglichst gut lesbaren und unanstößigen Text vorzulegen, sonder dazu soweit irgend möglich das wiederzugeben, was die Überlieferungsträger haben, auf Konjekturen aller Art soweit irgend möglich zu verzichten. Aber dies, wie gesagt, nur am Rande.) 

Was ist ein Fehler? 





Friederike Berger: Die Textgeschichte der Historia Animalium des Aristoteles, Wiebaden : Dr. Ludwig Reichert Verlag 2005

Paul Maas: Textkritik (= "Einleitung in die Alterumswissenschaft" I.2) Leipzig : B. G. Teubner 1927

Giorgio Inglese (ed.): Niccolò Machiavelli: De principatibus, Roma : Istituto Storico Italiano Per Il Medio Evo 1994

Nadia Gontarbert (ed.): Étienne de La Boétie: De la servitude volontaire ou Contr'un : suivi de sa réfutation par Henri de Mesmes …, Paris : Gallimard 2005